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Humboldt an Goethe

* Von Wilhelm v. Humboldt, 15.6.1795 (HABaG Bd. 1, S. 199 ff., Nr. 140):

Jena, 15. Juni 1795.

Ich freue mich herzlich, liebster Freund, zu hören, daß Sie auf dem Wege der Wiederherstellung sind, und wünsche Ihnen den besten Fortgang dabei. Wie ich von Schiller höre, sind Sie nach Karlsbad zu gehen entschlossen, und auf alle Fälle sehe ich Sie noch vor meiner Abreise, da ich, wenn Sie erlauben, wenn es irgend möglich ist, Sie noch einmal in Weimar auf einige Stunden besuche. Bei uns sind die bösen Masern endlich doch eingekehrt. Mein Mädchen hat sie gehabt, ist aber wieder in der Genesung; der kleine Bruder und ich sind noch ganz frei, und vielleicht wird daher unsere Reise nicht gestört.

Ihr Meister hat uns gestern einen sehr glücklichen Abend gemacht. Er ist Ihnen unglaublich gelungen. Die Begebenheiten sind so schön motiviert, und nehmen doch einen so raschen und unerwarteten Gang für den Leser, die Charaktere soutenieren sich wunderbar, und das Raisonnement über Hamlet ist voll tiefer Ideen und trefflicher Bemerkungen. Der Unterschied zwischen Drama und Roman, den Sie angeben, ist aus dem Innersten der Kunsttheorie geschöpft und verdiente wohl noch eine ausführlichere Erörterung, als Ihnen die Stelle im Roman erlaubte. Meisters Übergang zum Theater haben Sie mit überaus großer Kunst vorbereitet, und Werners und sein Brief stellen sich vortrefflich gegeneinander. Der letztere erhält auch sehr nützliche Winke über Ihren Roman selbst und die Gründe, warum Sie sich alles um das Theater herumdrehen lassen. Von meiner Frau soll ich Ihnen sagen, daß es sie sehr intrigiere zu wissen, wessen Arm den Meister in dem Augenblick umschlingt, als das Manuskript uns verläßt. In der Tat sind wir alle sehr neugierig darauf und haben uns was Rechts zerraten, um es herauszubringen. Die meisten Stimmen unter uns und Schillers sind für Marianne; indes auch Mignon und Philine sind auf unserer Liste gewesen. Ich denke, die Erscheinung, mit der das Kapitel schließt, rührt von derselben Person her, die den Geist übernahm; oder täuscht auch diese Vermutung und war der Geist ein Mann, vielleicht Werner? Daß Aurelie eine so hübsche Rolle spielt, dafür danke ich Ihnen besonders. Sie stört einen gar nicht, auch wenn man sie nicht liebt; und macht durch den ungeheuren Kontrast noch Philinen pikanter, die durch das Klipp! Klapp! und das schöne Lied noch höher, wenigstens bei uns allen, steigt. Was meint aber wohl Philine für eine Stelle im Hamlet?

Voß' "Luise" hat mich so interessiert, daß ich mich anhaltender mit ihr beschäftige. Dies hat mich auf die Idylle überhaupt und auf die Vergleichung anderer Idyllendichter geführt. Unter den italienischen Dichtern dieser Art bin ich am wenigsten bekannt. Gibt es wohl außer Sannazaro noch andere sehr merkwürdige, und können Sie mir nicht wenigstens den erstern und den "Pastor fido" auf einige Tage, wenn ich bitten dürfte, recht bald schicken.

Verzeihen Sie mein Geschmiere und mein Geschwätz und empfangen Sie nur noch meinen innigsten und herzlichsten Dank für die frohen Tage, die ich bei Ihnen genoß, und die nur die Besorgnis um Ihre Gesundheit störte. Tausend Empfehlungen an Ihren Freund Meyer von mir und an Sie beide von meiner Frau!

Humboldt.

[...]

* Von W. v. Humboldt, 9.2.1796 (HABaG Bd. 1, S. 217 ff., Nr. 153):

Berlin, 9. Febr. 96.

Sie werden sich gewundert haben, in so langer Zeit keine Antwort von mir zu erhalten, und in der Tat bin ich selbst über diesen Verzug nicht wenig beschämt. Aber mein Bruder trug mir auf, Ihnen ein kleines Manuskript über den Galvanismus zuzuschicken, und da er dies auch hier einigen seiner Bekannten mitgeteilt hatte, so war es mir nicht möglich, dasselbe von diesen früher zurückzuerhalten. Aus diesem Grunde verschob ich die Beantwortung Ihres mir so angenehmen Briefes von einem Posttag zum andern.

Wohl ist es auch mir und mir [sic] besonders schmerzhaft gewesen, Ihrer und Schillers Nähe auf einmal auf so lange Zeit entrissen zu sein. Wie indes die Umstände einmal zusammentrafen, war es nicht abzuändern, und ich mußte mich in die Notwendigkeit fügen. Den ganzen Sommer und Herbst, bis Weihnachten habe ich auf dem Lande zugebracht und ziemlich ungestört den Lauf meiner gewöhnlichen Beschäftigungen verfolgen können. Seit Weihnachten bin ich hier in der Stadt, wo mich freilich Zerstreuungen und Gesellschaften mannigfaltiger Art zu einem beinah fortwährenden Müßiggange verdammen.

Der letzte Band Ihres Meisters und Ihr Märchen haben mir im verwichenen Herbst eine sehr angenehme Beschäftigung gewährt. Die beiden letzten Bücher Ihres Romans kontrastieren sehr schön miteinander; das fünfte so voll Leben, Mannigfaltigkeit und Bewegung; das sechste so einfach in den Begebenheiten und so reich an tiefen und feinen Bemerkungen. Ungeachtet ich fast von keiner Seite mit dem Subjekte zu sympathisieren vermag, das Sie schildern, so habe ich dennoch die Kunst bewundert, mit der Sie diesen schwierigen Charakter so schön angelegt und so glücklich durchgeführt haben. Ich habe mich bloß nach Ihrer Schilderung in diese mir so total fremde Individualität vollkommen versetzen können, und nur bei ein paar Übergängen, wo aber die Schuld auch sehr leicht an mir liegen kann, hätte ich mehr Ausführlichkeit oder Bestimmtheit gewünscht. Äußerst wohltätig wirkt das Erscheinen des Oheims. Man ruht bei seinem freundlichen, liberalen Wesen, und bei den vielen Objekten, die er um sich her versammelt hat, so gern von der düstern, verworrenen, ganz und gar subjektiven Stimmung des armen Mädchens aus. Sehr neugierig bin ich, wie Sie diese Episode mit dem Ganzen in der Folge verknüpfen, und wie Sie überhaupt die mannigfaltigen bis jetzt geschürzten Knoten wieder auflösen werden.

Ihr Märchen scheint mir das erste Muster dieser Gattung in unserer Literatur. Die meisten Leser, deren Urteile mir hier zu Ohren gekommen sind, haben sich über die Maßen zerquält, einen philosophischen Sinn heraus- oder wenigstens hineinzudeuteln, und da sich mehrere deshalb an mich, als müßte gerade ich ganz eigne Offenbarungen darüber haben, wandten, so habe ich sie bei meinen Antworten in zwei Klassen geteilt. Für diejenigen, an deren Bekehrung ich gleich verzweifelte, habe ich aus dem Stegreif eine eigne Erklärung gemacht; den andern habe ich mich zu zeigen bemüht, daß es keiner bedürfe. Damit aber bin ich freilich nicht durchaus glücklich gewesen, und in der Tat ist es schwer die Gattung des Märchens scharf zu bestimmen, wenn man nämlich davon schlechterdings den Roman die Fabel, die Allegorie, die Novelle u.s.f. rein absondern will. Noch schwerer aber scheint es mir, daß, wenn dies geschehen ist, recht viele, besonders deren, die sich nachdenkende und räsonnierende Köpfe nennen, und nie, wie sie sagen, bloß belustigt sein wollen, daran Geschmack finden sollten. Sobald das Märchen nicht bildlicher oder poetischer Ausdruck eines gedachten Satzes, also nicht Fabel oder Allegorie, sein soll, so steht ihm nur die Erzählung im weitesten Verstande (Roman, Novelle u.s.f.) entgegen, die ich, um sie vom Märchen zu unterscheiden die natürliche, so wie das Märchen selbst die abenteuerliche nennen will. Bei jeder dichterischen Erzählung muß ein aus der Wirklichkeit genommener Stoff durch die Phantasie zu einem Ganzen bearbeitet werden, und der verschiedene Anteil, den die Wirklichkeit und ihr Charakter, und die Phantasie und der ihrige in der Erzählung nehmen, scheint mir jene Einteilung zu begründen. Bei der natürlichen Erzählung nimmt nämlich der Dichter eine Reihe von Begebenheiten, verknüpft sie auf eben die Weise, wie sie objektiv verknüpft zu sein pflegen, verleiht ihnen aber zugleich die nur der Phantasie eigne Freiheit, und macht sie dadurch zu einem dichterischen Ganzen; bei dem Märchen hingegen verknüpft er eine Reihe bloßer Einfälle allein nach der Willkür der Phantasie, stellt sie aber dennoch zugleich als wirklich geschehen dar, und mischt ihnen daher soviel von dem Charakter der Wirklichkeit bei, als notwendig ist, einem bloßen Traum augenblickliche Wesenheit zu verschaffen. Dort behandelt er dasjenige, was auch der Wirklichkeit angehören könnte, als ein Objekt der Phantasie; hier dasjenige, was nur der Phantasie eigen sein kann, als einen wirklichen Gegenstand. Dort sollen wir den Gang der Wirklichkeit zum freien Schwunge der Phantasie vergeistigt, hier den Gang der Phantasie zum Lauf der wirklichen Begebenheiten verkörpert sehen. Der Zweck des Dichters beim Märchen ist daher allein auf die Beschäftigung der Phantasie und zwar nicht bloß in ihrer Freiheit, sondern sogar in ihrer Willkür gerichtet, und ist daher so schlechterdings formal, daß alles, was Materie genannt werden kann, Handlungen, Gesinnungen, Charaktere, ihm nur mittelbar, nie wesentlich angehört, obgleich die Schönheit des Märchens gewiß immer in dem Grade steigt, in welchem die Form mehr Materie trägt, ohne von ihrer Leichtigkeit zu verlieren. Daher aber kann auch niemand wahren Sinn für diese Gattung haben, als wer gestimmt ist, die Form bloß um der Form willen zu lieben. Jeder andre muß das Märchen zur Allegorie herabstimmen wollen. Denn in keiner andern Dichtungsart dürfte leicht das eigentliche Wesen des bloß Poetischen so rein und so allein (ohne alle andre Begleitung) auftreten.

Ebendarum aber ist es nicht allein so schwer in dieser Gattung vorzüglich zu sein, sondern auch schon nur die Regeln aufzustellen, nach welchen ihre Güte geprüft werden muß. Wenn das vorige richtig ist, so können sie sich nur auf zwei Punkte beziehen, 1. auf die reine Darstellung der Form der Phantasie, 2. auf die Beimischung des Objektiven, wodurch jene Form erst einen Körper erhält.

Bei dem ersteren Punkt ist die Bestimmung am schwierigsten. Die gänzliche Willkür, welche die Gattung sogar zur notwendigen Bedingung macht, scheint alle Gesetze auszuschließen, und darum habe ich schon manchen armen Tropf sagen hören, daß er solche Märchen, so oft es verlangt werde, wohl auch machen wolle. Soviel läßt sich indes doch immer sagen, daß die Phantasie erstlich in einem vorzüglicheren Grade, als bei jeder andern Dichtungsart fein sein muß, da sie bei allen, gänzlich undichterischen Menschen beständig der Empfindung oder dem Verstande dient. Zweitens daß sie gerade diese ihre Freiheit an einem Objekte, nicht ein Objekt in dieser Freiheit darzustellen bemüht sein muß. Ihre Freiheit aber, wie ihr Wesen besteht darin, daß sie, mit Entfernung aller Materie, sich allein an die Form hält. Ihre Richtschnur und ihr Gesetz ist daher das Ideal der bloßen Form, die bloß formale Schönheit. Auch erkennt man diese in jedem guten Märchen an der Leichtigkeit, Sinnlichkeit, Bewegung, selbst an einer gewissen Leerheit, möchte ich hinzusetzen. Denn das Erhabne z.B. dürfte nicht für diese Gattung gemacht sein, obgleich gar sehr das sinnlich Große. Am ratsamsten scheint es mir zur Prüfung eines einzelnen Produkts dieser Gattung den Einfluß zu erforschen, den es auf die Phantasie des Lesers ausübt. Es ist gewiß immer gut, wenn diese sich leicht, rein, und ästhetisch gestimmt fühlt, und sollte ich den Nutzen dieser Dichtungsart angeben, möchte ich sie ein Reinigungsmittel der Phantasie ihrer bloßen Form nach nennen. Das Ihrige hat sich bei mir, und bei allen, deren Urteile ich trauen kann, hierin auf eine bewundernswürdige Weise bewährt. Alles, von den lieblichen geschwätzigen Irrlichtern und ihrem Golde an, bis zu der Schattenhand des Riesen, und der Schlange, die sich als Brücke über den Strom bäumt, trägt so sehr den Charakter jener Phantasiestimmung an sich und bringt dieselbe wiederum so sehr hervor, daß man sich augenblicklich von der Hand des Genies ergriffen fühlt.

Bei dem zweiten Punkt hatte ich vorhin zu bemerken vergessen, daß der Märchendichter darauf ausgeht von der Wahrheit des Unmöglichen überzeugt zu scheinen, ohne doch im Ernst andre überzeugen zu wollen. Hiedurch entsteht das Naive oder, wenn es niedriger gehalten ist, das Burleske dieser Gattung. Übrigens wird, dünkt mich, die höchste Wirkung hier dadurch erreicht, daß die einzelnen Figuren, in ihrer Gestalt, Handlungen und Gesinnungen so objektiv und natürlich, die Art ihres Erscheinens und Verschwindens so magisch und abenteuerlich als möglich ist [sic]. Dies schmeichelt auch nebenher zugleich der menschlichen Neigung, die nicht sowohl über den Mangel an Gegenständen des Genusses in der Welt, als über die Schwierigkeit sie zu erreichen und umzutauschen klagt. Auch hierin und vor allem in der treuherzigen Naivetät der Erzählung ist Ihre Arbeit vortrefflich.

Ich schäme mich beinah, in eine ordentliche Theorie des Märchens verfallen zu sein. Allein ich rechne auf Ihre freundschaftliche Nachsicht, und bitte Sie, doch mir gelegentlich Ihre Meinung über meine Gedanken zu sagen.

An unsern Freund Meyer bitte ich Sie, von meiner Frau und mir recht viele Grüße zu bestellen. Wir denken, wenn uns nichts Unvermutetes in den Weg tritt, im Frühjahr 1797 nach Rom zu gehn, und es wäre überaus schön, wenn wir ihn noch dort fänden.

Leben Sie recht wohl, teurer Freund, und vergessen Sie nicht, was Sie mir einmal in Dornburg mit so vieler Güte sagten, daß man auch abwesend immer einen gewissen fortdauernden Umgang unterhalten müsse. Schreiben Sie mir, wenn Sie einen müßigen Augenblick finden, recht bald wieder, und ja nicht anders, als durch eine fremde Hand, da Sie dies mehr lieben.

Meine Frau dankt recht herzlich für Ihr gütiges Andenken, und freut sich sehr der Aussicht, Ihnen bald einmal wieder nahe zu sein. Adieu!

Ihr

Humboldt.

* Von W. v. Humboldt, 25.6.1796 (HABaG Bd. 1, S. 225 ff., Nr. 158):

Berlin, 25. Juni 1796.

Verzeihen Sie, verehrungswürdigster Freund, wenn ich Ihnen auf Ihren freundschaftlichen Brief vom 27. v. M. [Mai] erst so spät antworte und Ihnen Ihre schöne Idylle so lange vorenthalten habe. Allein ob ich gleich seit dem Anfange des Mai hier ein recht ungestörtes und völlig einsames Leben führe, so hat ein unglücklicher Zufall es in diesen letzten Wochen immer so gefügt, daß ich den Posttag entweder auf dem Lande bei meiner Mutter habe zubringen müssen, oder durch unerwarteten Besuch abgehalten worden bin. Lassen Sie sich diesen Verzug nur ja nicht hindern, ich bitte Sie recht herzlich darum, mir künftig einmal wieder eins Ihrer neuern Produkte mitzuteilen; Schiller wird Ihnen sagen, daß ich sonst nur selten gegen die Pünktlichkeit im Antworten verstoße. [...]

In Ihrer Idylle [Alexis und Dora] vereinigt sich alles, was diese schöne Gattung anziehend und reizend machen kann: einfacheWahrheit der Empfindungen, liebliche Natur der Schilderungen, hohe dichterische Schönheit und eine bewunderungswürdige Zierlichkeit und Leichtigkeit der Diktion. Ich habe mich mit unglaublichem Vergnügen bei der Vergleichung dieses Stücks mit andern derselben Gattung der übrigen neuem Dichter verweilt und habe darin besonders zwei Eigentümlichkeiten sehr stark ausgedrückt gefunden, die überhaupt, meinem Gefühl nach, Ihren Dichtercharakter vorzugsweise bezeichnen. Die erste ist zu auffallend, als daß sie irgend jemand entgehen könnte, es ist der Ernst, den immer auch das Spiel annimmt, sobald es ein schönes Spiel ist, die Tiefe, bis zu der Sie allemal die Empfindungen verfolgen, und der Umfang, den Sie ihr geben. Daher erscheint z.B. die Liebe, selbst in ihren leichtesten Äußerungen und in ihren flüchtigsten Aufwallungen bei Ihnen immer groß, über den ganzen Charakter ausgegossen, mit allem in Verknüpfung gebracht, vollkommen frei und rein, und doch durchaus wahr und natürlich. So in den Elegien und in dieser Idylle. Durch den Eindruck des Ganzen, und besonders bei einigen einzelnen Stellen, wie z.B. gleich anfangs: "In mich selber kehr' ich zurück u.s.w.", dann den einzig schönen Versen: "Wie man die Sterne sieht u.s.w." und endlich: "Ewig, sagtest du leise u.s.w." sieht sich der irgend empfängliche Leser auf einmal mit tieferen und ernsteren Gefühlen überrascht, als ihn die spielende Leichtigkeit anderer und selbst des Ganzen anfangs erwarten läßt. Einen ähnlichen Eindruck macht die lebendige Stärke des Wechsels der Empfindung am Ende, der so schön und wahr geschildert ist.

Aber was bei der Vergleichung mit den besten Produkten dieser Gattung noch auffallender wird und Ihnen gleich eigentümlich aber noch ausschließender angehört, ist die Verbindung dieser gehaltvollen Natur mit einer so leichten und so zierlichen Form, in welcher nicht der Künstler, aber doch das Kunstwerk erscheint. Ich zweifle, ob ich mich Ihnen deutlich genug ausgedrückt haben werde; aber gewiß ist es doch, daß es zwei entgegengesetzte Arten der Poesie gibt, deren eine mit zu vieler und zu formloser Materie, die andere mit einer zu leeren Form auftritt. Der erstere Fehler ist den Deutschen häufig eigen und muß jeder Nation gefährlich sein, die mehr Gefühl als Phantasie hat, von deren beider glücklichen Mischung doch wohl die höchste Poesie abhängt. Man findet ihn z.B., dünkt mich, hier und da (um nur aus den bessern Dichtern Beispiele anzuführen) in Voß' Gedichten, bei denen man nicht selten, wenn man genau auf sich achtet, eine recht echt ästhetische Stimmung in sich vermißt. Von dem entgegengesetzten Fehler liefern die Ausländer Proben genug. Die griechischen und römischen Dichter zeigen im Grunde denselben Unterschied. In den besten der erstern ist bloß Natur, Einfachheit und Wahrheit, bloß immer der Gegenstand selbst, ohne daß jedoch darum der Eindruck nur im mindesten weniger ästhetisch wäre, mehr, so in den Rednern oder Geschichtschreibern, abgesondert das Gefühl als die Einbildungskraft ergriffe, worin unstreitig der unnachahmliche Vorzug der griechischen Natur bestand.

In den vorzüglichsten unter den Römern ist dagegen offenbar schon Kunst, Manier und Schmuck sichtbar, ohne daß man ihnen doch den Vorwurf des Spielenden und Tändelnden machen könnte, der die späteren und ihnen gleichzeitigen Griechen offenbar trifft. Die Vereinigung dieser verschiedenen Eigentümlichkeiten nun ist es, die ich in so vielen Ihrer Gedichte und fast vor allen in dieser Idylle bewundere, in welcher echt Homerische Einfachheit (z. B. nur in der Beschreibung der Geschenke) mit der feinern und reinern Entwickelung der Empfindungen, die nur das Eigentum der neuem Zeit ist, und mit jener leichten Zierlichkeit gepaart ist, die so lebhaft an die römischen Dichter erinnert. Für diese ist es nicht möglich, einzelne Stellen anzuführen; sie webt und lebt in jedem einzelnen Verse und in dem Ganzen; nur der einzige Vers schien mir beinahe ein wenig zu sehr in dieser Ovidischen Gattung:

Noch schlagen die Herzen

Für einander, doch ach nun an einander nicht mehr!

der, wenn Sie mir dies zu bemerken erlauben, zugleich die Unbequemlichkeit hat, daß das an, der Skansion nach, nicht den Ton bekommt, den man ihm, dem Sinne nach, offenbar geben muß.

Vorzüglich leicht und schön entläßt den Leser der Anruf der Musen am Schluß. Ich wünschte sehr, daß es mir gelungen wäre Ihnen hier meine Idee ganz deutlich zu machen, ich wünschte es um so mehr, als ich in ihr den Aufschluß der Verschiedenheit der griechischen, neuern ausländischen und unserer deutschen Poesie aufsuche. So viel wenigstens scheint mir gewiß, daß auf die Art der Verbindung der Natur und der Kunst allein in dem Dichter alles ankommt, und daß eine solche, bei welcher die Natur nie, auch nur im kleinsten Grade, schwer und drückend, und die Kunst nie leer und kalt wird, nur in dem Dichter stattfinden kann, der zugleich vollkommen objektiv und vollkommen ästhetisch gestimmt ist, der immer die wahre Beschaffenheit der Gegenstände rein in sich aufnimmt und sie immer wieder gleich treu in seiner Einbildungskraft darstellt. Der nachsichtsvollen Güte, die Sie mir über mein Urteil über Ihr Märchen bewiesen, müssen Sie es zuschreiben, daß ich heute über die Idylle so ausführlich bin. Sehr gern verweilte ich noch bei so vielen einzelnen Stellen. Sie ist durch und durch schön und gehört gewiß zu Ihren gelungensten Stücken.

Auch das Silbenmaß haben Sie vortrefflich behandelt. Nur folgenden zwei Hexametern wünschte ich einen bessern Abschnitt:

S. 3, V. 7: Und nun trennt uns die gräßliche | Woge Du u.s.w.

S. 5, V. 2 v. u.: Wahrlich es | soll zur | Kette | werden das u.s.w.

Ihren Pentametern haben Sie dadurch, daß Sie ihnen mit so großer Sorgfalt eine ganz entschiedene Länge zur Abschnittssilbe gegeben, einen großen Wohlklang erteilt. In nur noch wenigen ließe sich vielleicht noch etwas nachhelfen:

S. 4, V. 6: Nimm aus dem | Garten | noch | einige u.s.w.

S. 6, V. 2: Spangen | sollen | dir | reichlich verzieren die Hand.

S. 4, V. 12: Schönere | Frucht fiel | dir | leise berührt u.s.w.

Noch und dir schließt man, dünkt mich, in den beiden ersten dieser Verse im Skandieren zu nah an die vorhergehenden Trochäen an. In dem letzten kann man zwar nicht anders, als Sie es wollen, skandieren; aber bei einem natürlichen Lesen, ohne Rücksicht auf den Vers, verliert doch das Pronomen dir durch das vorhergehende Verbum und die auch nachfolgende Länge allen Ton. Aber ich breche endlich ab und bitte Sie nur, schon diese Kritteleien zu verzeihen.

Meine Frau empfiehlt sich Ihrem freundschaftlichen Andenken und dankt Ihnen herzlich für den Genuß, den ihr die Idylle verschafft hat. - Ihren Wunsch, diese sonst niemand zu zeigen, habe ich pünktlich erfüllt.

Jacobi hat mir einen Besuch hier versprochen. So viel Freude es mir auch macht, ihn wiederzusehen, bin ich doch etwas bange, wie ihm übrigens die Berliner behagen werden, und wenn er nicht in den nächsten drei Wochen kommt, findet er mich, wie ich ihm auch geschrieben, nicht mehr. Bloß die Rückfälle und Folgen eines kalten Fiebers meines kleinen Jungen haben mich so lange hier noch zurückgehalten. Ich gehe alsdann zu meinemSchwiegervater aufs Land, und hoffe Sie von da aus recht bald zu sehen.

Leben Sie bis dahin recht wohl und erhalten Sie mir Ihre gütige Freundschaft.

Humboldt.

Der Cellini hat uns große Freude gemacht, fahren Sie ja recht bald fort.

* Von W. v. Humboldt, 24.11.1796 (HABaG Bd. 1, S. 258 f., Nr. 171)

Erfurt, 24. November 1796.

[...] Körners Brief über Ihren Meister, den Schiller Ihnen, soviel ich weiß, mitgeteilt hat, habe ich hier gelesen. Er scheint mir zu den seltenen geistvollen Beurteilungen zu gehören; die Hauptansicht des Werks ist, dünkt mich, sehr richtig gefaßt. Aber in einigen einzelnen Punkten kann ich nicht seiner Meinung sein, am wenigsten über Meisters Charakter selbst. Er scheint in ihm einen Gehalt zu finden, mit dem die Ökonomie des Ganzen, wie ich glaube, nicht würde bestehen können, und dagegen hat er, wie mich dünkt, seine durchgängige Bestimmbarkeit, ohne fast alle wirkliche Bestimmung, sein beständiges Streben nach allen Seiten hin, ohne entschiedene natürliche Kraft nach einer, seine unaufhörliche Neigung zum Räsonnieren, und seine Lauigkeit, wenn ich nicht Kälte sagen soll, der Empfindung, ohne die sein Betragen nach Mariannens und Mignons Tode nicht begreiflich sein würden, nicht genug getroffen. Und doch sind wohl diese Züge für den ganzen Roman von der größten Wichtigkeit. Denn sie sind es, die ihn zu einem Punkte machen, um den sich eine Menge von Gestalten versammeln müssen, die ihn zu einem Menschen werden lassen, der ewig Knoten schürzt, ohne fast je einen durch eigne Kraft zu lösen. Das aber ist eigentlich, meiner Ansicht nach, das hohe Verdienst, das den Meister zu einem einzigen Werk unter allen seinen Mitbrüdern macht, daß er die Welt und das Leben, ganz wie es ist, völlig unabhängig von einer einzelnen Individualität und eben dadurch offen für jede Individualität schildert. In allen übrigen, auch den Meisterwerken dieser Gattung, trägt alles durch Ähnlichkeit oder Kontrast den Charakter der Hauptperson. Im Meister ist alles und für alle und doch jedes Einzelne und das Ganze für den Verstand und die Phantasie durchaus bestimmt. Darum wird auch jeder Mensch im Meister seine Lehrjahre wiederfinden. Auch in ganz andern Situationen, als der Meister schildert, wird er das Leben genießen und benutzen lehren. Denn es sind nicht einzelne Exempel und Fälle, es ist die ganze Kunst und Weisheit selbst, poetisch dargestellt; der Dichter, um völlig bestimmt zu sein, nötigt den Leser, diese Weisheit sich selbst zu schaffen, und das Produkt in dieser letztern hat nun keine andern Grenzen, als die seiner eigenen Fähigkeit. Der Meister wirkt im höchsten Verstande produktiv aufs Leben. Es ist schlimm, daß der Titel der Lehrjahre von einigen nicht genug beachtet, von andern mißverstanden wird. Die letztern halten darum das Werk nicht für vollendet. Und allerdings ist es das nicht, wenn Meisters Lehrjahre Meisters völlige Ausbildung, Erziehung heißen sollte. Die wahren Lehrjahre sind nun geendigt, der Meister hat nun die Kunst des Lebens inne, er hat nun begriffen, daß man, um etwas zu haben, eins ergreifen und das andere dem aufopfern muß. Und was heißt Kunst zu leben anderes, als der Verstand, das eine zu wählen, und der Charakter, ihm das übrige aufzuopfern.

Aber ich habe das ganze Blatt beschrieben, da ich Ihnen nur unsern veränderten Reiseplan sagen wollte. Verzeihen Sie es mir, liebster Freund, und im Fall Ihnen Dienstag mittag nicht genehm sein sollte, so seien Sie so gütig, es mich wissen zu lassen. Hören wir nichts, so kommen wir.

Humboldt.

* Von W. v. Humboldt, 28.6.1797 (HABaG Bd. 1, S. 273 ff., Nr. 184):

Dresden, den 28. Juni 1797.

Es ist nicht ganz meine Schuld, liebster Freund, daß ich Ihren liebevollen Brief vom 8. d. erst so spät beantworte. Er ist mir, da er mich nicht mehr in Berlin gefunden hat, erst spät durch Vieweg zugekommen.

Ihre Änderungen der angezeigten Stellen [in Hermann und Dorothea] hat mir Vieweg nicht mitgeschickt. Er schreibt mir indes, daß er, zwei ausgenommen, von allen übrigen hat Gebrauch machen können. Ich bewundere, wie unermüdet Sie beschäftigt sind, diesem schönen Werke auch die letzte Vollendung zu geben, und da Sie es wünschen, so sollen meine kleinlichen Bemerkungen auch mit dem Druck selbst noch nicht aufhören.

Der Schluß des Ganzen, den Sie mir zugleich mitteilen, ist Ihnen vortrefflich gelungen. Er hilft das große Bild von der Lage der Zeit und der neuen Um[ge]staltung der Dinge, worauf das ganze übrige Gedicht wie auf einer ungeheuern Basis ruht, trefflich vollenden, und die Gesinnungen der beiden Verlobten Dorotheens greifen so schön ineinander ein, daß sie nun im eigentlichsten Verstande alles umschließen, was nur über diesen Gegenstand menschlich gedacht und empfunden werden kann. Die unerwartete Erscheinung des ersten Geliebten tut eine sehr große Wirkung. Sie gewinnen dadurch den großen Vorteil, einen höhern, kühnern, mehrumfassenden, heldenmäßigen Charakter auftreten zu lassen und mit dem Interesse des Ganzen zu verknüpfen, als der übrigen Anlage Ihres Plans nach möglich war. Die beiden Hauptarten menschlichen Daseins, die Sie selbst an einem andern Ort so meisterhaft schildern, das unruhige Streben nach Erweiterung und Veredlung und die bescheidene Beschränktheit, die nur auf der kleinen ihr angewiesenen Stelle tätig ist, stehen unbeschreiblich lebendig und individuell durch die Schilderung so weniger Verse da. Aber was darin so vorzüglich groß ist, ist, daß der ruhige Hermann eigentlich nicht minder heldenmäßig erscheint als der andere; er zeigt vielmehr eine Stärke und Festigkeit des Entschlusses, die nur, durch Vernunft und richtigen praktischen Sinn geleitet, sich in bescheidenen Schranken hält; und der ganze Unterschied zwischen beiden liegt vielleicht in Einflüssen des Himmelstrichs und der Nationalverschiedenheit.

Denn auch dies haben Sie so meisterhaft benutzt und dem Deutschen (der Ihnen, wie ich gern einmal recht umständlich ausführen möchte, für die idealische Darstellung seines Charakters schon so viel schuldig ist) wieder einen sehr edeln Platz angewiesen.

Dieser Schluß vollendet nun zugleich, wie es mir scheint, den Begriff des Epischen in Ihrem Gedicht, vorzüglich im Gegensatz mit der Idylle. Die Idylle kann in der Tat nicht mehr als Eine Stimmung des menschlichen Gemüts kennen, bloß die beschränkte, die auf Ruhe und bloße Zufriedenheit geht. Das kühne Bemühen des Völkerverbesserers, das rastlose Streben des Weltumseglers, der emsige Fleiß des Naturforscbers, selbst der höhere Standpunkt des Philosophen, mit dem er sich über die bloße Wirklichkeit erhebt, alles dies ist der Idyllenstimmung nicht bloß fremd, sondern entgegengesetzt. Sie ist schlechterdings nur das Bild einer Hälfte der Menschheit, und ich habe oft gedacht, ob es nicht eine Gattung der Dichtart geben müßte, die ebenso ausschließend nur die andere schilderte. Das Epos allein umfaßt die gesamte Menschheit, vereinigt zugleich Flug des Geistes und Ruhe der Empfindung, und fügt alle Elemente des menschlichen Daseins zu einem großen Ganzen zusammen. Dies finde ich in so hohem Grade in Ihrem Hermann und dies macht ihn mir besonders so vorzüglich wert.

Einige einzelne Verse in diesem neuen Schluß sind zugleich so glücklich gesagt, daß sie einen unbeschreiblichen Eindruck machen. So die beiden:

Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts

Lösen in Chaos und Nacht sich auf, und neu sich gestalten.

Nur daß Sie im zweiten Vers "gestalten" wiederbringen, gefällt mir nicht ganz. Es ist nicht bloß die Wiederholung, an der ich mich stoße. Es ist mir eben, als forderte der Zusatz "neu sich gestalten" auch eine Partikel bei dem ersten "die gestaltete", was doch nicht anginge. Doch wird es freilich schwer sein, einen andern gleich passenden Ausdruck zu finden. Sonst kann ich nicht sagen, daß mir auch nur Kleinigkeiten in diesem Schluß aufgefallen wären. Das Ganze schien mir zwar sich noch nicht so rein und ohne Anstoß lesen zu lassen als die vorigen Gesänge; doch konnte ich nicht finden, wo es im Einzelnen steckte, und überdies schrieben Sie mir ja, daß Sie es noch hier und da umändern.

Es schmerzt uns sehr, daß Sie uns beinahe die Hoffnung wieder nehmen, uns jenseits der Alpen zu sehen und daß wir vielleicht auch Meyer verlieren. Sagen Sie mir doch recht bald etwas Näheres; Alexander grüßt Sie herzlich; ebenso meine Frau, die noch innig über die Güte und Liebe, die Sie ihr in Jena erwiesen haben, gerührt ist. Leider ist sie seit einigen Tagen wieder nicht recht wohl. Wir bleiben bis zum 12. Juli hier. So lange ist unsere Adresse: An Herrn von Humboldt den Älteren (nicht: Legations-Rat) im gräfl. Hagenschen Hause am Markt. Später: bei Körner abzugeben. Sobald ich nach Wien komme melde ich Ihnen unsere dortige Wohnung. Die Briefe an Sie schicke ich bis auf weitere Nachricht an Schiller. Leben Sie herzlich wohl und reisen Sie recht glücklich.

Ihr

Humboldt.

* Von W. v. Humboldt, Anfang [10.?] April 1798 (HABaG Bd. 1, S. 304 ff., Nr. 203):

[Paris, Anfang April 1798]

Verzeihen Sie mir ja, mein teuerer Freund, daß ich Ihren freundschaftlichen Brief vom 7. Febr. erst jetzt, also so spät beantworte. Aber eine Arbeit, für die ich Sie bald um einen freundschaftlichen Anteil bitten werde, und die ich von Woche zu Woche gänzlich zu beendigen hoffte, und mit der ich, wie es so zu gehen pflegt, doch noch nicht ganz zustande bin, dann eine Unpäßlichkeit, die mich beinahe drei Wochen lang um alle gute Stimmung brachte, waren an dieser Verzögerung schuld.

Ihr Brief und das Gedicht, das ihn begleitete, haben mir eine außerordentliche Freude gemacht. Es hatte mich so tief geschmerzt, daß wir Sie in der Schweiz verfehlt hatten, und nun war dies Blatt die erste Nachricht, die ich wieder unmittelbar durch Sie selbst bekam. Ich sehe mit inniger Freude daraus, daß Sie wohl und tätig sind, und beides bestätigt mir Brinkmann, dem Sie durch Ihre gütige Aufnahme äußerst glückliche Tage gemacht haben. Wohl sagen Sie mit Recht, daß uns das Vaterländische näher liegt als das Fremde, und wie nahe liegt mir alles, was von Ihnen und Schiller kommt, aus dem Kreise, auf den ich alles beziehe, und der im strengsten Verstande mein besseres Dasein bewahrt.

Ihr Amyntas ist unglaublich schön. Auch hier ist es Ihnen wieder so vorzüglich gelungen, die feinsten und schönsten Empfindungen, mit denen nur unsere Zeit vollkommen sympathisieren kann, in ein so echt antikes Gewand zu kleiden. Mir wenigstens führt der Anfang dieser Elegie immer die Theokritischen Zyklopen zurück; und wie zart ist das Ganze empfunden, wie dichterisch und kräftig gesagt! Die Stelle: Soll ich nicht lieben die Pflanze u.s.w. macht einen wunderbaren Effekt. Nie wäre es möglich, die Innigkeit, mit der ein Wesen dem andern einverleibt wird und diese fremde Nahrung, dies fremde Lehen zu seinem eigenen macht, kräftiger und wahrer zu schildern. Die Anwendung, die so kurz und doch so gut vorbereitet ist, ist sehr gut behandelt, und die Verse sind Ihnen mehr als vielleicht je geglückt.

In Rücksicht auf die Verse muß ich noch einmal auf Ihren Hermann zurückkommen. Ich weiß nicht, ob Sie mit Brinkmann über Prosodie gesprochen haben; er ist aber sehr fest und geübt darin, und so wenig ich ihm auch gerade viel dichterisches Talent einräumen möchte, so hat er kein kleines Verdienst in der Reinheit und Leichtigkeit jeder Art der Versifikation. Er hat Ihren Hermann unglaublich studiert, und da ich in seinem Exemplar einige Verse angestrichen sah, so forderte ich ihn auf, das Gedicht einmal ganz durchzugehen, die prosodischen Kleinigkeiten, die ihm aufstoßen würden, anzumerken, und zu versuchen wie man ihnen vielleicht durch leichte Versetzungen abhelfen könnte. Ich selbst will das nämliche tun, und wenn Sie erlauben, schicken wir Ihnen unser grammatikalisches Machwerk in kurzem. Da Sie mir ausdrücklich sagten, daß ich mir ein durchschossenes Exemplar halten möchte, so denke ich, ist Ihnen dies nicht unlieb. Auf alle Fälle bekommen Sie eine reichliche Gelegenheit, über unsere Pedanterie zu lachen, wie Schiller so oft über die meinige getan hat. - In der Tat aber ist Brinkmann für das Amt eines solchen prosodischen Wächters wie geboren. Er versteht nicht nur die Sache, sondern besitzt sehr viel Genauigkeit, sodaß ihm nicht leicht eine Unrichtigkeit entgeht; und seine eigene Übung macht, daß ihm leichter andere Wendungen einfallen. Die beiden letztern Eigenschaften zum wenigsten gehen mir ab.

Mein armer Agamemnon ist leider nur um eine Szene in Wien und um einige Verse erst hier vorgerückt. Ich hoffe auf bessere Stimmung in den schönen Sommertagen. Aber überhaupt ist auch Paris nicht gemacht, dichterische Stimmungen (wenn ein armer Übersetzer auch von solchen reden darf) herbeizuführen.

Von meiner andern Arbeit sage ich Ihnen nicht eher, als bis sie unter Ihren Augen ist.

Das Wichtigste aber, was ich eigentlich als eine Frucht des hiesigen Aufenthalts ansehen kann, geht mir nur erst im Kopfe herum und bleibt vielleicht ewig dort. Es ist das Studium des französischen Nationalcharakters und die Vergleichung mit dem deutschen. Denn in der Tat bin ich noch sehr ungewiß darüber, welcher von beiden mir, wenn ich eine Zeit damit fortfahre, so lebendig und klar werden wird, daß eine Darstellung auch für andere möglich wird. Wir haben gewöhnlich so viel von interessanten Gegenständen gesprochen, daß ich, glaube ich, nie gegen Sie meine beiden großen Plane, eine Schilderung unsres Jahrhunderts und die Gründung einer eigentlich neuen Wissenschaft: einer vergleichenden Anthropologie, erwähnt habe. Aber auf alle Fälle kann es Ihnen nicht entgangen sein, daß ich überall hauptsächlich auf die Kenntnis des Menschen im einzelnen, und zwar auf eine solche ausgehe, die empirisch genug ist, um vollkommen wahr zu sein, und philosophisch genug, um für mehr als den jedesmaligen Augenblick zu gelten. Ich konnte meine Reise an keine andern Ideen anknüpfen, und obgleich dieselbe eine ziemlich zufällige Veranlassung hatte, so mußte ich suchen, sie dafür und so systematisch als möglich zu benutzen.

Der französische Nationalcharakter gibt mir in dieser Hinsicht nicht wenig zu tun, und so leicht und begreiflich er auf den ersten Anblick scheint, so mancherlei Schwierigkeiten zeigen sich in der Nähe. Überhaupt ist es unglaublich, was es heißt, ein einziges Objekt der Natur zu erforschen. Wenn man nur irgend das Auge besitzt, das allein den guten Beobachter machen kann, so fühlt man, wie alles mit allem zusammenhängt, wie in jedem Punkte die gesamte Natur ist. Wer muß davon mehr überzeugt sein als Sie. Gerade darin scheint mir der einzige Grund zu liegen, warum Sie in Ihren naturhistorischen Bemühungen immer noch sich selbst so wenig Genüge leisten, scheinbar so wenig fortrücken. Aber bei moralischen Gegenständen ist noch die große Schwierigkeit mehr, ihr eigentliches Wesen von ihrer zufälligen Beschaffenheit in der Zeit, ihre wirkliche Eigentümlichkeit von ihren möglichen Fortschritten zu unterscheiden, die Linien zu bestimmen, aus denen sie nicht herausweichen können, und ihnen doch nicht Grenzen zu stecken, über die sie nicht hinausgehen können, die die Menschheit schon darum nicht kennt, weil sie dieselben nicht kennen darf.

Ehe ich mit meinem Begriff eines Nationalcharakters zufrieden hin, muß ich also etwas finden, das ebensowohl mit der gewöhnlichen Wirksamkeit als mit den fehlerhaften Ausartungen und den gelungensten Energien übereinstimmt, etwas Gemeinsames, das ich in allen einzelnen Teilen der menschlichen Beschaffenheit und Tätigkeit als sich selbst gleich wiedererkenne; etwas endlich, das sich mit jeder Art individueller Charaktere verträgt, aber jeden so modifiziert, daß dadurch alle eine allgemeine Ähnlichkeit erhalten.

Es ist nicht möglich, auch vor dem vollendeten Studium nicht gewisse vuen zu haben, nicht schon vorläufig nach dem bloßen Takt einiges festzusetzen, und so habe auch ich einige solche Ideen über den französischen Charakter. Es scheint mir auffallend, daß in demselben mehr Verstand als Geist, mehr außer sich aufs Leben gerichtete, als eigentlich in sich gekehrte und künstlerisch gestimmte Einbildungskraft, mehr Heftigkeit und Leidenschaft als Empfindung herrscht. Es scheint mir ferner eine sehr wichtige Eigenschaft desselben, daß er schlechterdings nicht pathetisch ist, und daß dieser Mangel des Pathetischen durch eine entgegengesetzte Anlage, durch eine immer rege Beweglichkeit und Leichtigkeit des Temperaments bewirkt wird. Insofern er also ein wirklicher Temperamentscharakter ist, unterscheidet er sich von dem deutschen, da der Deutsche einen so allgemeinen, oder wenn Sie wollen, so keinen Charakter hat, daß Deutsch und Nicht-Deutsch für eine allgemeine Klassifikation der Nationalcharaktere gelten kann. Als durchgängig unpathetisch steht er dem englischen entgegen, da ein Engländer in der Tat alles, auch die unbedeutendste Kleinigkeit, mit Pathos tut.

Es ist nicht zu berechnen, wie hoch sich derselbe durch diese Freiheit von allem Pathos schwingen kann. Er genießt, wenn Sie mir ein anfangs wunderbar scheinendes Gleichnis erlauben wollen, dadurch des ganzen Vorzugs, den die Komödie vor der Tragödie hat. Es ist bloß [sic], daß er dadurch da gut fortkommt, wo das Pathetische sich schlechterdings nicht einmischen darf, sondern es ist wunderbar, wie das Entgegengesetzte sogar nun, nur gut behandelt, gut gerät, wie pathetisch das Pathetische in dem Munde dessen wird, der gar keine Anlage hat, es zu sein. Seitdem ich darauf achtgebe, sind mir ganz einzelne Beispiele davon in Büchern sogar aufgestoßen. Aber auf der andern Seite ist es auch schwer einzusehen, wie sich dieser Charakter von den Fesseln losmachen kann, die ihn an die Wirklichkeit ketten und ihm allen idealischen Aufflug verwehren, wie er besonders die Hindernisse besiegen wird, die ihm eine so beschränkte Sprache entgegensetzt.

Sie sehen, wie viel ich zu tun habe, wenn ich nur diese wenigen Ideen entwickeln und rechtfertigen will, wie sie nur durch die Vergleichung mit allem, was einer solchen Eigentümlichkeit ähnlich und unähnlich ist, Licht, nur durch die genaue Kenntnis alles dessen, was diese Nation je getan, gedacht und geschrieben hat, die nötige historische Bestätigung erhalten können.

Daher sehe ich es auch nur als eine Art Sisyphussteins an, den ich so vor mir hinwälze, und bei dem ich mich glücklich genug schätze, wenn er mir nicht zu oft und zu tückisch entrollt.

Aber statt dieser Allgemeinheiten hätten Sie, liebster Freund, vielleicht lieber etwas über Paris und die hiesige Lage besonders gehört. Allein ich schmeichelte mir, daß es ihnen nicht uninteressant sein würde, zu wissen, womit ich gerade beschäftigt wäre, und da eben jetzt nichts einzelnes Interessantes vorgefallen ist, so ist es in der Tat schwer, über Paris im ganzen zu reden.

Um das Politische, wissen Sie, bekümmere ich mich nicht. Also ist es nur das Literarische und Artistische, wovon ich Kenntnis habe. Die Stadt und was der Reisende so seinem Beruf nach sieht, sind neuerlich so oft beschrieben worden, daß mich ekelt, nur daran zu denken.

Von dem Literarischen kann Sie nur das Fach der Naturhistorie und Physik hier interessieren; nur Ihre Bemühungen in diesen Fächern könnten hier eine Ernte, aber gewiß auch eine reichliche finden. Am meisten, bilde ich mir ein, würden Sie im Jardin des plantes sein, der durch seine schöne Lage, den Umfang der Anstalt, den Reichtum der darin enthaltenen Sammlungen und die Gelehrsamkeit und man kann hinzusetzen, die Gefälligkeit der darin wohnenden Gelehrten einzig in Europa ist. Freilich muß man nicht so schöne Gewächshäuser und eine so sorgfältige Wartung der Menagerie verlangen, als in Schönbrunn, dazu sind hier noch die Mittel nicht vorhanden. Aber das Museum ist unbeschreiblich reich. Es ist mir eingefallen, daß es Ihnen vielleicht lieb wäre, einzelne Notizen über einige seltene Skelette zu haben. Wäre dies, so bitte ich Sie, mich nur davon zu benachrichtigen. Sowohl ich selbst, als der Dr. Fischer, den Sie kennen und der bei mir ist, würden hierin Ihren Wunsch sehr leicht befriedigen können. Der gefälligste und tätigste Mann in dieser Anstalt ist Cuvier, der zugleich vollkommen gut Deutsch weiß. Er hat sehr interessante Arbeiten über die Physiologie der kaltblütigen Tiere gemacht und will eine ausführliche anatomia comparata herausgeben. Er liest über dies Fach, und dies Collegium soll vortrefflich sein. Die beiden Elefanten sind seit einigen Tagen aus Holland angekommen, und zuerst einige Tage lang im Invalidenhause behalten worden, um sie dort zuerst den Verteidigern des Vaterlandes zu zeigen, die sie erbeutet haben. Aus Toulon erwartet man einige Löwen und eine Gazelle, wenn ich nicht irre.

Zu Ihren optischen Beschäftigungen fänden Sie vielleicht in Charles's ungeheutem Apparat manches Dienliche. Der Mann selbst ist ungleich weniger wert, ein bloßer Experimentator, aber sein Instrumentensaal ist leicht der reichste in Europa.

Ihre mineralogische Neugierde würde eine sehr reiche Befriedigung in Dolomieu's Cabinet finden. Er trägt mir auf, Sie freundschaftlichst zu grüßen. Er erinnert sich noch immer mit großem Vergnügen Ihres gemeinschaftlichen Aufenthaltes in Rom mit Ihm. Ich fragte ihn, wo ich wohl die Stücke, die Sie wünschen, bekommen könnte, und er will mir einige schicken, die er Sie als ein Andenken aufzubewahren bittet. Es ist ein äußerst braver Mann, den ich sehr viel sehe.

In der Chemie ist Fourcroy, Berthollet und besonders Vauquelin ausnehmend tätig. Der letztere hat mehrere neue Entdeckungen gemacht, die auch unstreitig schon in deutschen Journalen angekündigt sind. Fourcroy ist mehr Systematiker, aber dies in einem hohen Grade, als Erfinder. Sein Vortrag ist außerordentlich schön. Er gibt jetzt seine Theorie de la chimie heraus, die 6-8 Bände ausmachen wird, aber erst der erste Teil eines großen Werks: Système des connaissances chimiques au commencement du 19me siècle, ist.

Die schöne Literatur würde Sie wenig interessieren. Wirklich fehlt hier die Flamme des Genies. Die meisten Produktionen sind sehr matt, und alle bleiben weit hinter dem zurück, was eine strenge Kritik mit Recht fordern kann. Von der Theorie der Dichtungsarten hat man schlechterdings keinen Begriff, und einen einzigen jungen Dichter ausgenommen, habe ich auch niemand gefunden, der nur ein Bedürfnis danach bei sieh spürte.

Von deutscher Literatur bildet man sich ein, hier viel zu wissen. Sie glaubt man sogar sehr zu kennen und zu lieben. Chenier hat Ihren Werther sogar in eine, aber noch nicht gedruckte Tragödie verwandelt. Aber man darf nur ein bißchen zuhören, um zu finden, wie es mit dieser Kenntnis und Liebe steht. Ich habe mir fest vorgenommen, daß durch mich nie eine deutsche Zeile (es müßte denn bloße Gelehrsamkeit sein) hier bekannt werden soll. Die Franzosen sind noch zu weit von uns entfernt, als daß sie uns da, wo wir auch nur anfangen, eigentümlich zu werden, begreifen sollten, so weit, daß die Verschiedenheit der Sprachen ordentlich als ein kleines Hindernis dagegen erscheint. Die Anzeige Ihres Hermann im Magasin encyclopédique haben Sie wohl gelesen. Sie war nicht übel. Sie ist vom jungen Schweighäuser. [...]

Was Ihnen hier zu nicht geringem Troste gereichen würde, ist, daß man so erstaunlich sicher vor dem Ich und dem Nicht-Ich herumgeht, als wären diese furchtbaren Gespenster gar nicht in der Welt. Fichtes alter Turm am jenaischen Stadtgraben kommt mir ordentlich manchmal wie ein Feenschloß vor. Aber ich wette, Sie würden, wenn Sie hier wären, sich danach sehnen. Mir wenigstens geht es so. [...]

Meine Frau grüßt Sie herzlich. Leben Sie innigst wohl, und vergessen Sie Ihre abwesenden Freunde nicht.

H.

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